Hintergrund
Die Deutsche Reichsbahn und der Holocaust
Todestransporte
In der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur von 1933 bis 1945 verantworteten die Entscheidungsträger und Funktionäre der Deutschen Reichsbahn (DR), die dem Reichsverkehrministerium (RVM) unterstellt war, den Transport von mehreren Millionen Menschen in westeuropäische Durchgangslager und osteuropäische Ghettos, in Konzentrations- und Vernichtungslager, zu den Mordstätten in der Nähe der lettischen Hauptstadt Riga oder nach Minsk/Weißrussland. Schätzungen zufolge wurden allein zwischen 1941 und 1945 etwa drei Millionen Menschen mit Zügen der Deutschen Reichsbahn in den Tod geschickt.
Koordination der Transporte
Planung und der Ablauf der Deportationen lagen in den Händen des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) in Zusammenarbeit mit der Deutschen Reichsbahn, die konkrete Durchführung überließ man den lokalen Gestapo-Stellen. Das RSHA war im September 1939 aus der Zusammenlegung von Sicherheitspolizei (Geheime Staatspolizei und Kriminalpolizei) und dem Sicherheitsdienst der SS entstanden. Das Referat IV B 4 (Juden- beziehungsweise Räumungsangelegenheiten) im RSHA, geleitet durch Adolf Eichmann, fungierte als Auftraggeber der Deportationszüge. Hier wurden auch der zu deportierende Personenkreis, seine Gesamtzahl und der konkrete Termin für die "Umsiedlung" festgelegt. Ausführende Instanz der Anweisungen des RSHA war die Gestapo, die die Menschen schriftlich oder mündlich über den Zeitpunkt ihrer "Umsiedlung" informierte oder in ihren Wohnungen "abholte" und in Sammellagern konzentrierte. In Berlin existierte beispielsweise im Jüdischen Altersheim in der Großen Hamburger Straße im Bezirk Mitte ein solches Sammellager; von dort aus wurden die Menschen zur "Verladestelle" des Berliner Bahnhofs Grunewald gebracht und nach Auschwitz deportiert.
Vier Reichspfennig pro Person
In der Betriebsabteilung der Reichsbahn wurden die Fahrpläne für diese Transporte ausgearbeitet. Die Deportationen erfolgten mit Sonderzügen und mit Waggons, die zum Teil auch an Züge des regulären Personenverkehrs angehängt werden konnten, je nach Umfang der zu verfrachtenden Menschen. Die Reichsbahn legte den üblichen Fahrtarif von vier Reichspfennig pro Person und Schienenkilometer zugrunde, für Kinder wurde ein verbilligter Fahrpreis in Rechnung gestellt. Bei der Belegung eines Zuges mit mindestens 400 Menschen galt ein "Rabatt" von 50 Prozent. Die Kosten für den jeweiligen Transport trug zwar das RSHA, doch dieses griff auf Gelder zurück, die ursprünglich aus den konfiszierten Mitteln der Deportierten stammten. Es war ein rentables Geschäft für die Deutsche Reichsbahn, da Juden aus ganz Europa verschleppt wurden, die weite Fahrtwege zurücklegen mussten. 560 Kilometer Entfernung liegen zwischen Auschwitz und Berlin, etwa 1.000 Kilometer zwischen Auschwitz und Frankfurt am Main. Zudem waren die Züge völlig überfüllt, 1.000 bis 2.000 Menschen wurden in den Waggons während eines einzigen Transports zusammengepfercht.
Hunger und Durst
Der Transport erfolgte anfangs in Güter- oder Personenwagen, schließlich sogar in Viehwaggons. In einem besser ausgestatteten Personenwagen war das Begleitpersonal untergebracht, meist Angehörige der Ordnungspolizei. Die Deportationszüge waren zum Teil in den alltäglichen Personenverkehr integriert. Eingepferchte Männer, Frauen und Kinder litten unter ständigem Hunger und Durst und mussten in den Wintermonaten ohne Beheizung ausharren. Überlebende berichteten immer wieder, dass gerade der Durst nach tagelangen Fahrten zu den quälendsten Erinnerungen zählte. In ihrer Verzweiflung sollen Mütter ihre kleineren Kinder aus dem Zug geworfen haben, in der Hoffnung dass sie überleben. Transporte für die Wehrmachtstruppen an der Front hatten jederzeit Vorrang, aus diesem Grund konnte es geschehen, dass Züge mitten auf der Strecke oder auf einem Nebengleis auf die Weiterfahrt warten mussten. Um eine möglichst optimale Auslastung der Züge zu gewährleisten, brachten sie bei der Rückfahrt aus Auschwitz Kleidung oder Wertgegenstände der Inhaftierten und Ermordeten nach Deutschland, wo sie an die ausgebombte Bevölkerung verteilt wurden. Es existierten zudem SS-Eisenbahnbaubrigaden ("KZ auf Schienen"), in denen ab 1944 KZ-Häftlinge unterkamen, um nach Bombenangriffen zerstörte Gleisanlagen auszubessern, wobei die Wiederherstellung der Schienenwege in der Verantwortung der Reichsbahn lag.
Vereinzelter Widerstand
Die Deportationen jüdischer Menschen wurden allerdings nicht immer widerstandslos hingenommen. Im Oktober 1939 protestierten Tschechen aus der Stadt Mährisch-Ostrau vor einem geplanten Transport und einige Mütter konnten mit ihren Kindern nach Prag fliehen. Auch in Prag kam es Ende Oktober 1939 zu einem Aufruhr, als 230 Juden abtransportiert werden sollten. In Belgien, seit Mai 1940 von deutschen Truppen besetzt, begannen die Deportationen der jüdischen Bevölkerung im Sommer 1942. Am 19. April 1943 überfielen drei Männer einen Zug, der aus dem Sammel- und Durchgangslager Mechelen (zwischen Brüssel und Antwerpen) kam. In dem nach Auschwitz fahrenden Zug befanden sich über 1.600 Menschen, darunter 262 Kinder. Den Männern gelang es, eine Waggontür zu öffnen, und vermutlich 17 Menschen konnten trotz Beschuss durch das den Zug begleitende SS-Personal fliehen. Insassen eines Waggons hatten bereits Vorarbeit geleistet, indem sie die Gitterstäbe der winzigen Luken angesägt oder die Türen eigenständig entriegelt hatten. Im Zug selbst wurde das Vorhaben zu fliehen von einigen Mitgefangenen mit Skepsis aufgenommen, da den Deportierten die Erschießung angedroht worden war, sollten bei der Ankunft im angeblichen "Arbeitslager" Auschwitz Personen fehlen.
Umgang der Bahn mit der Vergangenheit
Während die Sowjetische Besatzungszone und spätere DDR die Bezeichnung Deutsche Reichsbahn nach dem Ende des Krieges beibehielt, wurde sie 1949 in der Bundesrepublik Deutschland in Deutsche Bundesbahn umbenannt. Kontinuitäten im Personal sind hier ebenso wie in vielen anderen Bereichen des öffentlichen Lebens im Deutschland der Nachkriegszeit nicht ungewöhnlich. 1964 fand vor dem Schwurgericht in Düsseldorf der "Treblinka-Prozess" statt, in dem die Bundesbahnbeamten/innen als Zeugen/innen genauso wie die Angeklagten die gleiche Strategie wählten: von nichts gewusst und nichts gesehen zu haben, und das, obwohl nur mit Wissen und tätiger Unterstützung der Angestellten der Reichsbahn der reibungslose Ablauf der "Judendeportationen" möglich gewesen war. Bei den Nürnberger Prozessen und den Folgeprozessen saßen weder Vertreter/innen des Reichsverkehrsministeriums noch der Deutschen Reichsbahn auf der Anklagebank. Das einzige Verfahren gegen einen Reichsbahn-Mitarbeiter in leitender Funktion wurde 1973 eingestellt. Am 27. Januar 1998 wurde das Mahnmal "Gleis 17" an der ehemaligen "Verladestelle" Grunewald eingeweiht. Die Deutsche Bahn AG (Frankfurt/Main) hat im Jahr 2000 in die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft zur Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter/innen eingezahlt.
Im Herbst 2006 forderte die Publizistin Beate Klarsfeld von der Deutschen Bahn AG, die Ausstellung "11.000 jüdische Kinder – Mit der Reichsbahn in den Tod" auch auf deutschen Bahnhöfen zu zeigen. Diese Ausstellung thematisiert die Deportation französischer Kinder in die Konzentrations- und Vernichtungslager und wurde von der französischen Eisenbahngesellschaft SNCF bereits auf 20 größeren Bahnhöfen präsentiert. Die Aufforderung, dem französischen Beispiel zu folgen, lehnte die Deutsche Bahn AG zunächst ab. Sie plant stattdessen eine eigene Wanderausstellung über die Rolle der Reichsbahn im Holocaust, die am 27. Januar 2008 eröffnet werden soll.
Literaturhinweise
Autor/in: Verena Walter, 09.11.2006
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